Die Arbeits- und Pflegesituation in der stationären Demenzpflege ist für Pflegekräfte und Menschen mit Demenz unzureichend. Eine Ursache hierfür ist die Arbeitsverdichtung, die aus dem Mangel an Pflegekräften und der steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen mit Demenz resultiert. Sie führt zu einer erhöhten psychischen und physischen Belastung der Pflegekräfte und einer reduzierten Pflegequalität. Zusätzlich belasten die Störungen des Verhaltens und der Psyche von Menschen mit Demenz, wie z. B. Aggressionen, die Pflegekräfte (engl. behavioral and psychological symptoms of dementia, BPSD), da sie die Interaktion mit den Betroffenen erschweren. Für Menschen mit Demenz gehen die BPSD mit einer reduzierten Lebensqualität einher. Eine Möglichkeit zur Verbesserung der Arbeits- und Pflegesituation bieten Assistenzsysteme, mit denen Menschen mit Demenz ihre Lieblingsmusik hören können. Diese sog. personalisierten Musikinterventionen können die BPSD sowie die psychische Belastung pflegender Angehöriger reduzieren. In der stationären Demenzpflege haben sich bisherige Assistenzsysteme nicht etabliert. Eine Ursache hierfür ist die mangelnde Berücksichtigung des Nutzungskontexts bei der Entwicklung und Validierung der Assistenzsysteme. Aus diesem Grund wurde in Vorarbeiten ein personalisiertes Musiksystem für Menschen mit Demenz entwickelt. Das Bedienelement zum Starten und Beenden der Musikwiedergabe wurde gemeinsam mit Menschen mit Demenz gestaltet, wodurch die Musiksysteme eine hohe Gebrauchstauglichkeit für Betroffene aufweisen. Forschungsgegenstand der vorliegenden Dissertation war nun die arbeitssystemische Gestaltung der stationären Demenzpflege mit den personalisierten Musiksystemen. Ziel war die Beurteilung, inwiefern sich die Musiksysteme zur Verbesserung der Arbeits- und Pflegesituation in der stationären Demenzpflege eignen. Hierfür wurde die stationäre Demenzpflege als Patient-Arzt-Maschine-System betrachtet (PAMS). Die Interaktionen zwischen den Menschen mit Demenz (P), den Pflegekräften (A) und den Musiksystemen (M) wurden exemplarisch in einer stationären Demenzpflegeeinrichtung untersucht und in vier Publikationen veröffentlicht. In der ersten Publikation wurden die Arbeitsprozesse von Pflegekräften in der stationären Demenzpflege vor der Einführung der Musiksysteme untersucht. Hier führten Pflegekräfte bis zu 200 Tätigkeiten pro Stunde durch, wobei die Pflege mit 61 % einen Hauptbestandteil der Arbeitsaufgaben einnahm. Eine soziale Betreuung der Menschen mit Demenz erfolgte nur gelegentlich. Besonders mangelte es an privaten Gesprächen in der (PA-) Interaktion zwischen Pflegekräften und Menschen mit Demenz. In der zweiten Publikation wurden die Auswirkungen der Musiksysteme auf die BPSD der Menschen mit Demenz erforscht (PM-Interaktion). Hier zeigte sich eine Reduktion der Schlafstörungen und Wahnvorstellungen der Menschen mit Demenz. Das Symptom Apathie nahm tendenziell zu und erhöhte die Belastung der Pflegekräfte in der PA-Interaktion. Die dritte Publikation beinhaltet die Untersuchung der AM-Interaktion: die Nutzung der Musiksysteme durch die Pflegekräfte sowie die Auswirkungen der Musiksysteme auf deren psychische Belastung und Beanspruchung. Dabei wurde eine 1- bis 2malige Nutzung der Musiksysteme pro Tag erfasst. Es wird vermutet, dass Pflegekräfte die Musiksysteme hauptsächlich nach Bedarf und als Ergebnis einer Aufwand-Nutzen-Abwägung eingesetzt haben. Zu den Auswirkungen der Musiksysteme zählen eine reduzierte Arbeitsmotivation der Pflegekräfte sowie Verbesserungen ihrer Ermüdung und Aversionen. Zusätzlich meldeten die Pflegekräfte einen Rückgang herausfordernder Situationen mit Menschen mit Demenz (PA-Interaktion). Ein möglicher Zusammenhang zwischen der Berufserfahrung der Pflegekräfte und ihrer Beanspruchungsreaktion wurde identifiziert. In der vierten Publikation wurden das Geschlecht der Menschen mit Demenz sowie der Schweregrad ihrer Demenz und Pflegebedürftigkeit als mögliche Einflussfaktoren der PM-Interaktion identifiziert. So zeigten Frauen und Menschen mit schwerer Demenz bzw. moderater Pflegebedürftigkeit die größten positiven Veränderungen ihrer BPSD infolge der Anwendung der Musiksysteme. Mit den vorgestellten Untersuchungen bildet die Dissertation die erste vollständige arbeitswissenschaftliche Systembetrachtung einer personalisierten Musikintervention in der stationären Demenzpflege. Die positiven Veränderungen in den PAM-Interaktionen zeigen das Potenzial der Musiksysteme zur Verbesserung der Arbeits- und Pflegesituation in der stationären Demenzpflege. Die negativen Auswirkungen sollten reduziert werden. Hierfür ist eine weitere Anpassung der Musiksysteme an die Bedingungen und Anforderungen des Arbeitssystems erforderlich. Exemplarisch sollte der Bedienaufwand für Pflegekräfte reduziert werden, um die Nutzungshäufigkeit der Musiksysteme zu steigern. Zusätzlich müssen Pflegeeinrichtungen dafür sensibilisiert werden, dass sich die Musiksysteme nicht für alle Menschen mit Demenz und Pflegekräfte gleich gut eignen. Gelingt dies, können die Musiksysteme eine wertvolle Gestaltungsmaßnahme für stationäre Demenzpflegeeinrichtungen darstellen, um die Arbeitsfähigkeit der Pflegekräfte zu erhalten und das Wohlbefinden der Menschen mit Demenz zu steigern. Weitere Untersuchungen sollten die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Pflegeeinrichtungen sowie die häusliche Pflege durch Angehörige überprüfen. Zusätzlich empfiehlt es sich, die Auswirkungen der Musiksysteme im PAMS auf weitere Variablen der Arbeits- und Pflegesituation zu bestimmen. Eine mögliche Variable bildet z. B. die Lebenszufriedenheit der Menschen mit Demenz und Pflegekräfte.


    Zugriff

    Download

    Verfügbarkeit in meiner Bibliothek prüfen


    Exportieren, teilen und zitieren



    Titel :

    Arbeitswissenschaftliche Untersuchung eines Assistenzsystems in der stationären Pflege: Auswirkungen einer personalisierten Musikintervention auf Menschen mit Demenz und deren Pflegekräfte


    Weitere Titelangaben:

    Work science study of an assistance system in residential care: effects of a personalized music intervention on people with dementia and their caregivers


    Beteiligte:
    Ibenthal, Elisabeth (Autor:in) / Technische Universität Berlin (Gastgebende Institution)

    Erscheinungsdatum :

    2022



    Medientyp :

    Sonstige


    Format :

    Elektronische Ressource


    Sprache :

    Deutsch



    Klassifikation :

    DDC:    629